Das ist er also: Der Moment, auf den ich so lange gewartet habe. Der Moment, in dem ich wieder zurück in meinen halbwegs „normalen“ Alltag finde. Der Moment, als ich nach Hause komme, nachdem ich unseren Fips gerade zum ersten Mal wieder in die Kita bringen durfte. Lange habe ich diesen Moment herbeigesehnt, diesen besonderen Tag, und am Ende kam er doch irgendwie überraschend. Ich kann es ehrlich gesagt immer noch nicht wirklich glauben: Nach zehn langen Wochen darf unser Fips nun also wieder zurück in den Kindergarten – zu den ihm so vertrauten Menschen, die er so lange nicht gesehen hat: Erzieherinnen und Erzieher, Spielkameraden und Freunde. Endlich wieder gemeinsam spielen, gemeinsam lachen und Spaß haben – endlich wieder einfach Kind sein. Es ist ein ganz besonderer Tag für ihn. Und nicht nur für ihn – auch für mich.
Ein dankbarer Rückblick
Als ich zur Haustür hereinkomme, muss ich erstmal laut schreien vor Glück. Es ist diese große Erleichterung, die unendliche Freude darüber, dass nun wieder ein kleines Stück „Normalität“ einkehrt. Endlich wieder in Ruhe arbeiten. Endlich wieder frei sein und durchatmen. Lange habe ich mich nicht mehr so befreit gefühlt. Nach zehn Wochen Rund-um-Betreuung für unseren kleinen FraX – parallel zu Hausarbeit und Selbständigkeit – ist heute ein großes Stück Lebensfreude zurückgekehrt. Und ich möchte einen Teil der zurückgewonnenen Freiheit für einen ganz bewussten Rückblick nutzen. Einen Rückblick auf die vergangenen zehn Wochen, die so viel mit mir, mit uns, ja mit uns allen gemacht haben.
Und: Ich möchte vor allem die schönen Dinge betrachten, eben das, was die letzten Wochen an positiven Erkenntnissen ans Licht gebracht haben. Das, was ohne diese Ausnahmesituation vermutlich so nicht zum Vorschein gekommen wäre.
Für einen kurzen Augenblick die schweren Momente vergessen. Denn das sei vorneweg gesagt: Es war keine einfache Zeit. Es war eine große Herausforderung. Neben dem rein organisatorischen Aspekt, der unendlich viel Kraft gekostet hat, war es vor allem auch ein zermürbendes Wechselbad der Gefühle: zwischen Hoffnung und Verzweiflung, zwischen Optimismus und Wut. Ja, es war eine harte Zeit, die viele Gefühle schonungslos an Licht gebracht hat. Die aber trotzdem – oder gerade deswegen – auch gezeigt hat, wie viel Gutes dahinterstecken kann. Wenn wir denn genau hinschauen.
Was hat diese besondere Zeit mit mir und mit der Beziehung zwischen meinem Kind und mir gemacht? Was hat mir diese Ausnahmesituation gezeigt? Und was kann ich für die Zukunft daraus mitnehmen?
Ein neues Gefühl von Liebe
Noch immer frage ich mich, woher ich diese Kraft und Zuversicht genommen habe, so unglaublich positiv und motiviert in die Zeit der Krise zu starten (siehe auch „In jeder Krise steckt auch eine Chance“). Heute weiß ich: Es war genau richtig so! Es war gut so! Und es war vor allem so wichtig. Diese anfängliche Motivation hat mich beflügelt und mir Kraft gegeben. Sie hat mich von Anfang an auf die positiven Dinge schauen lassen. Mir den Blick für die schönen Dinge geöffnet. Bei aller Erschöpfung und dem Frust über die Gesamtsituation war ich immer wieder unglaublich dankbar. Denn von Anfang an habe ich es gespürt und heute – im Nachhinein – weiß ich es umso mehr:
Die Krise war ein „Neuanfang“ für unseren Fips und mich. Nie zuvor standen wir uns so nahe. Wir sind noch enger zusammengerückt, haben so viel Nähe erlebt. Nie zuvor habe ich so tiefe Liebe für mein Kind empfunden. Kitzeln, Kuscheln, Toben – wir haben die gemeinsamen Momente und die körperliche Nähe ganz tief ausgekostet. Es war, als hätte unser Fips die Zeit ohne Kindergarten, ohne Therapien und Arzttermine richtig genossen. Die Zeit mit mir. Und das, obwohl wir doch zuvor immer wieder aneinandergeraten sind und ich so überfordert war. Die vergangenen Wochen, in denen wir nur uns hatten, haben uns so tief verbunden, dass ich mich schon oft gefragt habe, was in den vergangenen Jahren eigentlich „schief“ gelaufen ist. Doch statt lange darüber zu grübeln, habe ich dieses neue Gefühl einfach genossen, diese neu entdeckte Liebe zu meinem Kind.
Natürlich gibt es immer noch Phasen und Momente, in denen mich unser Fips an den Rande des Wahnsinns treibt, doch alles ist leichter mit diesem Gefühl, das nun immer mitschwingt. Die gemeinsame Zeit hat uns so gutgetan, hat uns so viel Kraft gegeben und Mut gemacht – für das, was noch vor uns liegt. Und sie hat mir gezeigt, dass manche Dinge eben doch anders sind, als sie scheinen. Dass viel im Verborgenen liegt und erst in besonderen Situationen zum Vorschein kommt. Es ist so unglaublich spannend und daher eine ganz besondere Erfahrung für mich.
Weniger Termine – weniger Stress
Auch das war ein positiver Nebeneffekt der Krise: Viele Arzt- und Therapietermine wurden abgesagt. Das, was sonst zu unserem Alltag dazugehörte und mir auch eine gewisse Erfüllung gab, fehlte mir plötzlich gar nicht mehr. Denn der Stress, der sonst damit verbunden ist, fiel einfach weg. Es war so herrlich einfach, das Haus nicht auf Kommando und mit Termindruck verlassen zu müssen. All das, was sonst viel Organisation und Koordination erfordert, immer mit dem Blick auf die Bedürfnisse und oft unkontrollierbaren Befindlichkeiten des Kindes – gestrichen. Als ich das erkannte, konnte ich es auch wirklich genießen.
Einfach mal die Sorgen rund ums FraX vergessen
Natürlich zieht sich das fragile X-Syndrom durch unseren gesamten Alltag, es ist zu unserer ganz eigenen „Normalität“ geworden. Dabei richtet sich mein Blick immer und immer wieder auf die vielen kleinen und großen „Probleme“ und Sorgen, die dieser Gendefekt mit sich bringt. Die Dinge, die unseren Fips in irgendeiner Form einschränken oder behindern, und auch die Dinge, die unser Zusammenleben oft zur Herausforderung machen.
So war es eine unglaublich schöne und spannende Erfahrung, dass sich in der Zeit der Krise mein Bewusstsein für diese vielen „Probleme“ verändert hat. Endlich habe ich meinen Blick ganz gezielt auf mein Kind gerichtet und nicht auf die Sorgen und Auffälligkeiten, auf mögliche Erkrankungen, auf das, was da noch vor uns liegt. Für ein paar Wochen habe ich ausgeblendet, dass da doch eigentlich noch Arzttermine hätten stattfinden sollen, bei denen sicher neue Themen aufgekommen wären wie Therapieansätze und Fördermöglichkeiten. Endlich habe ich mal nicht darüber nachgedacht, dass wir doch eigentlich wieder ein EEG machen sollten, um das Thema Epilepsie im Blick zu behalten… Und dass irgendwann doch auch eine Fuß-OP ansteht… wegen der starken Fehlstellung.
Es hat so gutgetan, sich mal nicht mit all diesen Themen zu beschäftigen, sondern sich auf das Hier und Jetzt zu fokussieren. Dabei war es mir auch egal, dass einige Dinge sicher nicht gerade pädagogisch wertvoll waren und ich in ein paar Wochen wieder von vorne anfangen müssten – gerade was das Thema Konsequenz betrifft. Aber mir war es wichtiger, dass es uns gut ging. Denn wir wussten nicht, wie lange dieser Zustand anhalten würde. Also war mein oberstes Ziel, harmonisch durch den Tag zu kommen. Das Beste daraus zu machen. Und trotzdem ein paar kleine, pädagogisch wertvolle Dinge einzubauen.
Neue Kreativität und Freude am Mutter-Sein
Auch das hat mich wirklich glücklich gemacht: Meine eigene Kreativität auszuleben, die als Mutter doch in mir steckt. Im stressigen Alltag habe ich sonst oft keine Nerven dafür oder die Stimmung ist ohnehin angespannt. Doch jetzt war ich ja ohnehin gefordert, unseren Fips zu beschäftigen. Und das hat meine Fantasie und vor allem meine Motivation geweckt:
Höhle bauen, wilde Kissenschlachten, Pizza backen, Wasserspiele, Picknick im Garten,… Ich hatte richtig Spaß daran – und unser Fips zu meiner Freude auch. Natürlich ging das nur für eine gewisse Zeit gut, denn nach etwa sechs Wochen war die Luft raus – bei ihm und bei mir. Doch in diesen sechs Wochen haben wir so viel erlebt, so viel entdeckt, dass ich selbst ganz überrascht bin. Und diese vielen Momente werde ich nie vergessen. Mit ihnen kann ich eben auch positiv auf die vergangenen Wochen zurückblicken.
Die eigene Stärke erkennen – und stolz sein.
Ja, auch das habe ich mir immer wieder vor Augen geführt: Wie viel Kraft in uns Müttern doch steckt und was wir für unsere Kinder alles schaffen können. Vor allem im Rückblick betrachtet wird mir bewusst, was das eigentlich bedeutet. Wenn die Wutausbrüche und die Momente der Verzweiflung für eine Weile verblassen und ich mit Abstand auf die letzten Wochen schaue, sehe ich (wie bei so vielen vielen anderen Müttern) eine unfassbar große Aufgabe, die wir alle mit Bravour bestanden haben. Keine von uns hätte jemals geglaubt, dass all das einmal passieren würde und schon gar nicht, dass wir das schaffen würden. Oh doch: Wir haben es geschafft! Und schaffen es immer noch. Wir sorgen dafür, dass es unseren Kindern und Familien gut geht. Wir opfern uns auf und geben alles. Und darauf dürfen wir stolz sein.
So viel Ergotherapie steckt im Alltag
Schon nach relativ kurzer Zeit habe ich erkannt, was mir vorher Ärzte und Therapeuten immer wieder gepredigt haben:
Wie viel Ergotherapie eigentlich im Alltag steckt. Doch in der Hektik habe ich viel zu oft die kleinen Chancen verpasst, unseren Fips Dinge selbst ausprobieren zu lassen, selbst aktiv werden zu lassen. Habe kleine Handgriffe in der Eile meist selbst erledigt und uns beiden keine Zeit gegeben für das gemeinsame Erleben von kleinen und großen Erfolgen, für die Erfahrung, selbst etwas bewegen zu können. In den letzten Wochen wurde mir das erst wirklich bewusst – und ich war im ersten Moment enttäuscht von mir selbst. Doch ich wusste, dass ich es jetzt besser machen konnte. Jetzt hatten wir viel Zeit, und es wurde ein Teil unseres Tagesablaufes, dass unser Fips nun aktiv werden konnte:
- eine Wasserflasche aufdrehen
- einen Schluck Milch einschenken
- die Jacke alleine ausziehen
- die Socken in den Wäschekorb legen
- den Mund selbst abwischen
- usw.
Diese vielen winzigen, aber so wichtigen Dinge im Alltag, bei denen er doch so viel lernen kann. Als ich das erkannt hatte, wurde ich unglaublich kreativ und fand sogar bei der Hausarbeit viele Ideen für tolle Beschäftigungsmöglichkeiten. Die Waschmaschine ausräumen, saugen, Betten aufschütteln – wenn er motiviert war, klappte das wunderbar. Auch wenn es oft nur ganz kurze Momente waren: Am Ende war er mächtig stolz – und ich war glücklich.
Wenn ich mir all das noch einmal vor Augen führe, dann erkenne ich, wie viel Gutes die letzten Wochen mit sich gebracht haben. Bei allen Sorgen und Ängsten, bei allem Frust und ja, auch bei aller Wut, Erschöpfung und Verzweiflung – es gab doch unglaublich viele schöne Momente. Momente, die ich sonst wohl nie so erlebt hätte. Allein deswegen bin ich dankbar und freue mich doch gleichzeitig über dieses große Stück zurückgewonnene „Normalität“, die mir wieder Luft zum Atmen gibt und die es mir möglich macht, die Dinge mit Abstand zu betrachten. Denn dann erscheinen sie oft in einem neuen Licht.
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