Als ich vor wenigen Tagen nachmittags in den Kindergarten kam, um unseren Fips abzuholen, wurde ich auf dem Flur mit folgenden Worten empfangen: „Der Fips* stinkt!“ Für einen Moment war ich sprachlos. Kurzer Blackout. Doch nur eine Sekunde später war ich wieder bei mir – allerdings mit Gefühlen, die ich so von mir nicht kannte. Ich war so furchtbar wütend auf den kleinen Jungen, der mir gerade diesen Satz um die Ohren gehauen hatte, dass es mich selbst erschreckte. Statt wie sonst freundlich darüber hinwegzulächeln und mit einem flotten Spruch zu kontern, kam nur ein sehr giftiges „Aha!“ über meine Lippen. Eine weitere Sekunde später spürte ich, dass es mehr war als Wut. Ich fühlte mich gekränkt. Diese drei kleinen Wörter aus dem Munde eines Fünfjährigen hatten mich zutiefst getroffen. Doch was war überhaupt passiert?
Von Windeln, Wut und der Wahrheit.
Ich ahnte sofort, was der Auslöser für die Bemerkung des Jungen gewesen sein musste. Vermutlich hatte unser Fips kurz zuvor die Windel vollgemacht. Und vermutlich hatte der Junge ganz einfach nur das gesagt, was er empfunden hatte. Ich konnte es ihm noch nicht einmal übelnehmen. Schließlich bin ich diejenige, die den Fips Tag für Tag wickelt. Ich weiß also, was es heißt. Trotzdem: Im ersten Moment war ich einfach nur wütend. Wütend über diese in meinen Augen freche Bemerkung. Und noch viel wütender darüber, dass mich ein kleiner Junge überhaupt so wütend machen konnte – vor allem mit der Wahrheit! Und genau das machte mich gleichzeitig traurig.
Ein Schlag ins Gesicht
Nachdem mich die Situation auf dem Nachhauseweg immer noch ziemlich
aufgewühlt hatte und irgendwie nicht in Ruhe ließ, wurde ich zuhause nachdenklich.
Die heftigen Emotionen der ersten Sekunden waren verflogen, und nach und nach wurde
mir klar, was eigentlich der Auslöser war für meine Wut und den Schmerz:
Es ist schon einige Monate her, als ich in einem Drogeriemarkt zwischen den
Regalen ein Gespräch von zwei Frauen mithören konnte. Sie standen nur knapp zwei
Meter von mir entfernt, so dass ich jedes Wort hören konnte. Die beiden
unterhielten sich gerade über eine Bekannte, die in einer Einrichtung für
Behinderte arbeitete. Es waren nur wenige Worte, die ich von diesem Gespräch aufschnappte,
aber sie haben gesessen: “… ja genau, den hat sie auch immer gewickelt. Da
ist sie dann auch ihren Ekel losgeworden…“ Ich werde diese Worte nie vergessen.
Ganz objektiv betrachtet und aus rein menschlicher Sicht war diese Aussage so
verständlich – das wusste ich. Doch gleichzeitig hat sie mich sehr verletzt.
Denn im gleichen Moment sah ich unseren Fips vor mir und wusste, dass auch er möglicherweise im Jugend- oder Erwachsenenalter noch gewickelt werden muss. Dass
vielleicht auch er einmal derjenige sein würde, über den Betreuer oder
Pfleger so reden. Ganz wie der kleine Junge im Kindergarten mit seinem Satz „Der
stinkt!“. Dass auch er einmal derjenige sein würde, vor dem man sich
ekelt. Es war wie ein Schlag ins Gesicht. Das, was völlig nachvollziehbar klang,
tat mir als Mutter einfach weh. Als ich zu meinem Auto ging, fühlte ich mich wie
erschlagen und kraftlos.
Ich trage Deinen Schmerz
Und wieder einmal spürte ich, wie unglaublich verletzbar wir über unsere Kinder sind. Keine Mutter (und auch kein Vater) möchte miterleben, wie das eigene Kind verletzt oder ungerecht behandelt wird oder dass jemand schlecht über das eigene Kind redet. Wohl jede Mutter möchte ihr Kind am liebsten vor negativen Emotionen wie Trauer, Angst oder Enttäuschung schützen – auch wenn sie zum Leben dazu gehören – weil wir daran wachsen können. Doch während ich diese Zeilen schreibe, wird mir klar, dass es in unserer Welt einen kleinen Unterschied gibt:
Während andere Kinder Gefühle wie Enttäuschung, Wut oder Trauer selbst wahrnehmen und sich im besten Fall dagegen wehren können, daran wachsen und fürs Leben lernen können, wird unser Fips viele solcher Situationen vermutlich selbst gar nicht erkennen oder verstehen. Aber ich werde es verstehen. Wenn ich dann miterlebe, wie hilflos er ist, wenn ich erkenne, dass er sich nicht wehren kann, immer dann werde automatisch ich diejenige sein, die die Gefühle abfängt. Die Emotionen, der Schmerz werden nicht bei ihm ankommen, sondern bei mir. Ich werde den Schmerz für ihn tragen. Dafür bin ich als Mutter da.
*Name von der Redaktion geändert 😉