Diesen Satz höre ich in letzter Zeit immer häufiger, wenn ich unseren Fips mal wieder durch die Gegend schleppe.
Ja, mittlerweile nenne ich es „schleppen“. Denn „tragen“ wäre eine kleine Untertreibung. Für Außenstehende mag es auch tatsächlich befremdlich wirken, wenn ich mein Kind mit seinen 4 ½ Jahren und 1,11 m Körpergröße immer noch ganz selbstverständlich wie ein Kleinkind auf dem Arm habe. Und wenn ich so recht darüber nachdenke:
Ich kann es keinem verübeln, wenn er (innerlich) den Kopf schüttelt. Aber es gibt eben auch noch die Geschichte „hinter den Kulissen“. Und diese möchte ich heute erzählen.
Zwischen KÖNNEN und WOLLEN
Als unser Fips knapp drei Jahre alt war, hat er die ersten freien Schritte gemacht. Zwar noch sehr wackelig, aber es war ein „großer Schritt“ für uns alle. Mittlerweile kann er relativ gut laufen, wenn man mal vom Treppen steigen oder allzu steilem oder unebenem Gelände absieht. Allerdings läuft er bisher nur sehr kurze Strecken. Das liegt sicherlich auch daran, dass ihm die Übung und die Ausdauer fehlen. Und auch das hat einen Grund, der im Endeffekt auch das Hauptproblem ist.
Denn: Unser Fips KANN zwar laufen, aber das heißt noch lange nicht, dass er es WILL. Seine Motivation zu laufen geht oft gegen Null. Während andere Kinder mit den ersten freien Schritten schnell den Dreh raushaben und Mama und Papa regelmäßig davonlaufen, musste ich unserem Fips bisher nie hinterherrennen. Eigentlich ganz praktisch. Könnte man meinen. Manche nennen es liebevoll „zu faul zum Laufen“. Ich sehe das etwas anders. Denn ich weiß, was dahintersteckt.
Die Angst vor neuen Situationen
Streng genommen ist es gar nicht das Laufen selbst, was die Probleme macht. Es sind die Situationsübergänge, die zwangsläufig mit dem Laufen verknüpft sind: Der Wechsel von Orten oder Räumen und damit auch die Umstellung auf neue Personen und Gegebenheiten. Veränderungen der aktuellen Situation, in der sich unser Fips gerade befindet. Situationswechsel, die ihm von uns – von außen – vorgegeben werden und die ihm einfach zu viel sind. Der Weg von der Haustür zum Auto oder in den Garten, vom Auto zur Haustür oder zu einem anderen Gebäude. Oder einfach „nur mal kurz rüber zur Oma“. Immer wieder Momente, in denen er aus einer gerade vertrauten Umgebung und einer klar umrissenen Situation in eine andere Umgebung wechseln soll. In eine neue Situation, die er in dem Moment noch nicht greifen oder abschätzen kann – selbst wenn es für ihn eigentlich vertraute Dinge sind. Selbst die kürzesten Strecken – eigentlich ein Klacks für unser Kind – aber praktisch so gut wie nicht machbar. Und so wird jede noch so kleine Unternehmung – und sei es eben nur der Weg in den Garten – zu einem fast unüberwindbaren Hindernis. Genau diese kleinen Wege sind es, die den Alltag oft so schwer machen. Körperlich und auch emotional. Dann stelle ich mir oft vor, wie andere Kinder vor Freude hüpfend in den Garten springen oder wie sie auf ihren Wegen neugierig und mit voller Wucht in die nächste Pfütze treten und sich über die Sauerei freuen. Die Sauerei haben wir auch. Nur anders.
Sitzstreik
Je nach Situation versuche ich ihn dann mit Worten zu motivieren, abzulenken oder ihn zum Lachen zu bringen und somit ein paar Schritte herauszuholen. Doch in den meisten Fällen ist es aussichtslos. Es tut sich nichts. Klar, ich könnte es aussitzen. Also nicht ich – sondern er. Und das tut er auch – im wahrsten Sinne des Wortes. Aber auch mit geduldigem Abwarten komme ich hier nicht weiter. Unser Fips bleibt lieber genau da, wo er gerade ist. So einfach ist das. Für ihn. Nicht für mich. Manchmal hilft eine außenstehende Person, die unseren Fips zusätzlich motiviert. Manchmal, nicht immer.
Ansonsten ist es immer das Gleiche: Er jammert und schimpft und bewegt sich keinen Schritt. Die nächste Stufe ist dann der Sitzstreik: Er setzt sich auf den Boden und weigert sich, überhaupt wieder aufzustehen. Und da spielt es auch keine Rolle, ob wir strahlenden Sonnenschein haben oder eben Regen, Schnee, Knatsch und Dreck. Was eine Sauerei… Und wenn ihm das immer noch nicht reicht, um seine schlechte Laune mitzuteilen, legt er sich auch gerne flach auf den Boden. Egal ob Regen, Schnee … Du weißt schon.
Ratlos und wütend
Anfangs war es einfach nur nervig, jedes Mal dieses Gejammere und Gequengel – bis ich ihn dann eben doch trage. Okay, daran hat sich bis heute im Grunde nichts geändert. Aber hinzukommt, dass das Thema eine Brisanz entwickelt hat, die mir ernsthaft Sorgen bereitet. Denn langsam, ganz langsam wird unser Fips immer schwerer. Es ist mittlerweile tatsächlich ein Kraftakt, ihn hochzunehmen. Und ich weiß, dass das so nicht mehr lange geht. Mir ist vollkommen bewusst, was ich uns beiden damit eigentlich „antue“. Ihm, weil er sich dadurch nicht weiter entwickeln kann und sich dieses Muster mit jedem Tag weiter verfestigt. Und mir, weil mein Rücken bzw. mein ganzer Körper die fast 25 kg einfach nur noch schwer stemmen kann. Mein Rücken macht zwar alles noch brav mit, aber immer wieder gibt er mir leise zu spüren, dass ich so nicht weitermachen kann. Wenn es zieht und zwickt oder wenn ich den Fips die letzten paar Meter manchmal kaum noch halten kann. Dann werde ich manchmal auch richtig wütend. Innerlich. Nicht auf unseren Fips. Nicht mal auf mich selbst. Wütend einfach nur, weil ich hilflos und ratlos bin und Angst habe, wie das in der Zukunft werden soll. Wenn er noch schwerer wird. Und ich möchte gar nicht daran denken, was wäre, wenn ich tatsächlich mal „Rücken“ habe.
Kleine Erfolge
Immerhin: Im Kindergarten haben wir das ganze schon toll gelöst. Auch hier wollte der Fips die wenigen Schritte vom Auto zur Eingangstür lange Zeit nicht laufen. Zumindest nicht mit mir. Also haben wir für ca. drei Wochen den Test gemacht und immer eine Erzieherin dazu geholt, die mit ihm gemeinsam zur Tür gelaufen ist. Und das hat funktioniert. Seitdem läuft er fast immer selbst – ohne Probleme.
Und auch der Weg vom Auto zur Haustür klappt mittlerweile ganz gut. Für den Weg in die andere Richtung – von der Haustür bis zum Auto – bin ich seit Wochen dabei, ihn an die Strecke zu gewöhnen. Anfangs habe ich ihn komplett bis zum Auto getragen. Irgendwann ein paar Meter davor abgesetzt. Nun versuche ich jeden Tag, die Strecke minimal zu verkürzen. An manchen Tagen kann ich mir das gleich sparen, das erkenne ich an seiner Stimmung. Und jedes Mal bevor ich ihn absetze, überlege ich mir auch ganz genau, ob ich das jetzt riskiere. Im besten Fall klappt alles und wir laufen die letzten paar Schritte. Im schlimmsten Fall weigert er sich wieder und ich muss ihn noch einmal hochnehmen, also wieder von vorne…
Hoffnungsschimmer
Meine Gedanken kreisen immer wieder um diese Frage: Welche Optionen haben wir noch? Welche Möglichkeiten gibt es für die verschiedenen Situationen? Es ist Kopfsache, Gewöhnungssache, eine Verhaltensweise, die es aufzubrechen gilt. Aber wie?
Ein Hoffnungsschimmer besteht. Wir haben im Februar mit Ergotherapie angefangen – mit einem Therapiehund. Tatsächlich ist das Hauptziel, unseren Fips so zu motivieren, dass zukünftig das Laufen besser klappt. Glauben kann ich es noch nicht. Aber ein wenig Hoffnung habe ich. Und das ist schonmal ein guter Anfang.