Wie machen das nur andere Mütter? Ich weiß nicht, wie oft ich mir diese Frage schon gestellt habe. Fast täglich, oft sogar mehrmals am Tag, suche ich nach einer Antwort auf diese Frage. Manchmal lässt sie mich regelrecht verzweifeln. Wie kann ich mit einem einzigen Kind oft so überfordert sein? Sicher, unser Fips braucht mehr Unterstützung und Begleitung im Alltag. Aber trotzdem: Wie – bitteschön – machen das andere Mütter mit zwei oder mehreren Kindern?
Ein ungelöstes Rätsel – von Wundermüttern und Powerfrauen
Als Mutter eines Einzelkindes bin ich heute fast schon eine Rarität. Zumindest in unserem Freundeskreis haben die meisten Familien mindestens zwei Kinder, teilweise sogar drei oder vier. Immer dann, wenn ich mal wieder an meine Grenzen komme (und das geschieht mehrmals täglich), stelle ich mir diese eine Frage:
„Wie machen das nur andere Mütter?“
Es ist mir ein Rätsel (und wird es wohl auch immer bleiben), wie all diese Mütter ihren Alltag meistern. Woher nehmen sie die Kraft, um Tag für Tag mehrere Kinder gleichzeitig zu versorgen? Um ehrlich zu sein habe ich mir diese Frage bereits kurz nach der Geburt unseres Sohnes gestellt. Schlaflose Nächte, ein völlig neuer Lebensrhythmus und ein neuer Lebensinhalt – schon damals war ich mir sicher: „Ein zweites Kind – das schaffe ich nicht!“ Es war mir einfach unerklärlich, wie man es als frisch gebackene Mutter sowohl physisch als auch psychisch schaffen kann, sich parallel noch um ein weiteres Kind zu kümmern. Schon damals für mich schlichtweg unbegreiflich. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Während ich schon mit einem Kind oft völlig überfordert bin, bewundere ich immer wieder diese Mütter, die das alltägliche Chaos mit mehreren Kindern stemmen. In meinen Augen allesamt Powerfrauen, Wundermütter, Multitasking-Talente – auch wenn ich weiß, dass auch bei Wundermüttern nicht immer alles rund läuft. Und trotzdem: Sie schaffen es doch irgendwie! Ich dagegen schenke seit fünf Jahren all meine Energie und Zeit unserem einzigen Kind – und gelange dennoch immer wieder an meine Grenzen. Wie kann das sein?
Mein Versuch, eine Antwort zu finden
Mittlerweile habe ich immerhin gleich zwei Erklärungen für mich gefunden, die die Frage zumindest ansatzweise beantworten – auch wenn sie mir oft nicht ganz ausreichen. Ich muss sie mir immer und immer wieder bewusst machen, damit mein kritisches inneres Ich endlich Ruhe gibt.
1. Diagnose Fragiles X-Syndrom
Die erste Erklärung liegt nahe: Mit der Diagnose Fragiles X-Syndrom hat sich unser Leben grundlegend verändert. Oder besser gesagt: Es geht seinen ganz eigenen Weg – ohne Navi, ohne feste Richtung, ohne Orientierung. Hinein ins Ungewisse. Es fordert uns als Eltern – und vor allem mich als Mutter – jeden Tag aufs Neue heraus. Von der emotionalen Achterbahn wird mir immer wieder übel, und die vielen kleinen und großen Herausforderungen, die ich meist hochmotiviert angehe, rauben mir im Rückblick betrachtet oft sehr viel Kraft. Genau diese Kraft ist es wohl, die mir an anderer Stelle fehlt. Und natürlich sind es die vielen kleinen Dinge im alltäglichen Leben, bei denen unser Fips Unterstützung und Begleitung braucht. Die große Portion Geduld, die ich Tag für Tag benötige, und die am Ende doch nie ausreicht. In der Summe füllt all das einen großen Teil meiner Zeit.
Wenn ich mir das vor Augen führe, kann ich für einen kurzen Moment nachvollziehen, warum ich mit einem Kind so beschäftigt und ausgelastet bin. Also alles gut?! Doch schon im nächsten Moment hebt meine innere Stimme den Zeigefinger und stichelt: Was ist denn mit all den Müttern, die ebenfalls ein Kind mit fragilem X-Syndrom oder einer anderen Form der Behinderung haben? Und die trotzdem ein zweites oder drittes Kind haben?! Ein Schlag ins Gesicht, den ich mir selbst verpasse. Also muss es doch noch eine andere Erklärung geben…
2. Da war doch noch was… Hochsensibilität – Fluch und Segen
Und dann fällt es mir wieder ein: Da war doch noch was…
Etwas, das ich im Alltag leider viel zu oft vergesse oder verdränge, was aber
einen enormen Einfluss auf mein Leben – ja auf mein Er-Leben – hat. Nämlich die
Tatsache, dass ich hochsensibel bin.
Vor knapp zehn Jahren ist mir der Begriff Hochsensibilität zum ersten
Mal begegnet. Schon damals fand ich es unglaublich spannend, einen Zusammenhang
zwischen den typischen Eigenschaften von Hochsensiblen und meinen eigenen
Wesenszügen zu erkennen. Plötzlich fühlte ich mich wie erlöst – so unglaublich
erleichtert. Endlich fand ich eine Erklärung für so viele Dinge, die mir in der
Vergangenheit das Leben erschwert hatten. Ich spürte, dass das mein Thema ist und dass diese Erkenntnis, dass ich wahrscheinlich hochsensibel bin,
mein Leben um einiges erleichtern würde.
Doch erst nach der Geburt unseres Sohnes bin ich wirklich tiefer in das Thema eingestiegen und habe angefangen, auch im Alltag mehr Rücksicht darauf zu nehmen. Ja, auch mehr Rücksicht auf mich selbst zu nehmen. Endlich durfte ich sein, wer ich wirklich bin und vor allem, wie ich wirklich bin. All das, wofür ich mich in der Vergangenheit vor mir selbst und meiner Umwelt gerechtfertigt hatte, bekam plötzlich ein ganz neues Gesicht. Und es fühlte sich gut an! Endlich fand ich eine Erklärung für so viele Dinge, die oft Auslöser für Stress und Konflikte waren und teilweise noch heute sind. Wie oft habe ich mich für meine Empfindsamkeit gerechtfertigt, bis ich mich selbst tatsächlich für schwach, überempfindlich und kaum belastbar gehalten habe – ein Sensibelchen eben… Nach so vielen Jahren, in denen ich mich dagegen gewehrt habe, mich selbst dafür verurteilt habe, konnte ich nun diese besondere Empfindsamkeit als Teil von mir annehmen und lieben lernen. Denn auch wenn das Leben als Hochsensible eine echte Herausforderung ist, habe ich mittlerweile die vielen positiven Seiten der Hochsensibilität kennengelernt. Heute weiß ich, dass es eben Menschen gibt, die anders fühlen, empfinden, wahrnehmen. Zu erkennen, dass es keine Schwäche ist, sondern auch eine Bereicherung sein kann, war der erste Schritt in eine leichtere Zukunft.
Doch was hat das nun mit meiner Rolle als Mutter zu tun?
Sehr viel sogar. Heute weiß ich, dass ich als Hochsensible Reize wesentlich stärker wahrnehme als andere, nicht hochsensible Menschen. Geräusche, Gerüche, grelles Licht, Stimmungen – alles prasselt ungefiltert auf mich ein und erzeugt permanenten Stress. Reizüberflutung im ganz normalen Alltag quasi. Da kann mich unser Fips mit seiner Echolalie und seiner massiven Ungeduld in wenigen Sekunden zur Weißglut bringen, und nach gefühlt 50 Wortwiederholungen in zwei Minuten glaube ich, dass mein Trommelfell gleich zu platzen droht. Oder das Windelwechseln am frühen Morgen – zum Start in den Tag eine simple Routine, die aber eine große Portion Energie frisst. Neben den vielen äußeren Reizen reagiere ich zudem sehr empfindlich auf Gefühle – im positiven wie auch im negativen Sinne. Und zwar nicht nur auf meine eigenen, sondern auch auf die, anderer Menschen. Gleichzeitig fällt es mir wirklich schwer, mich in solchen Momenten abzugrenzen. Somit nehme ich sämtliche Gefühle, die unser Fips den lieben langen Tag entwickelt, in mir auf. Jedes Quengeln, jedes Jammern, seine Ungeduld, seine Aufregung – alles landet direkt in meinem Herzen. Und in meinem Körper. Keine Chance es abzuwehren. Die Stimmung überträgt sich fast automatisch auf mich, so dass mir manchmal regelrecht schwindelig wird. Atemnot, Ohrenpiepsen, Zittern… Mein Körper zeigt mir sofort, wenn es zu viel ist. Jeder Streit, jeder Ärger im Außen – in wenigen Sekunden in meinem Inneren.
Regretting Motherhood – bereue ich etwa meine Mutterrolle?
Es sind genau diese Momente, in denen ich fliehen möchte aus dieser viel zu lauten und aufregenden Welt. Und gleichzeitig halte ich durch. Versuche zu funktionieren. Am Ende des Tages bin ich dann völlig erschöpft und spüre, wie gut mir das Alleinsein tut. Ja, ich liebe das Alleinsein! Ich genieße es immer wieder: Wenn der Fips vormittags im Kindergarten ist, wenn er bei Oma und Opa spielt, wenn ich ausgehen kann und mein Mann auf ihn aufpasst. Immer dann spüre ich, wie sehr ich den Abstand von meinem eigenen Kind genieße.
Aber kennt das nicht jede Mutter? Wahrscheinlich schon. Doch ich hatte irgendwann das Gefühl, dass bei mir mehr dahintersteckt… Während andere Mütter die freie Zeit gemeinsam mit ihren Kindern zu genießen scheinen, bin ich froh, wenn ich weiß, dass mein Kind gut versorgt ist und ich mich anderen Dingen widmen kann. Ich habe regelrecht Angst davor, mit meinem Kind gemeinsam Zeit zu verbringen, mit ihm alleine zu sein. Schließlich bin ich ja ständig überfordert. Als ich diese Gefühle zum ersten Mal realisiert habe, war ich erschrocken von mir selbst. Wie konnte ich nur so etwas denken oder fühlen?!
Glücklicherweise bin ich genau zu dieser Zeit auf einen ganz besonderen Blog gestoßen. Auf www.pusteblumen-fuer-mama.de schreibt die wunderbare Christine über das Thema „Muttersein als Hochsensible“. Ich war gefesselt von ihren Texten. Die Gefühle und Gedanken, die sie beschrieb, konnte ich so gut nachempfinden. Hier bin ich auch zum ersten Mal auf den Begriff Regretting Motherhood gestoßen. Die eigene Mutterrolle bereuen? Was Christine und andere betroffene Mütter hier berichteten, klang so gar nicht nach glücklichen Mamas, an manchen Stellen fast schon kalt, irgendwie herzlos… Aber ich konnte es teilweise nachempfinden! Ich habe mich an viele Stellen wiedererkannt. Ein Satz von Christine ist mir besonders hängen geblieben:
„Wie soll eine hochsensible Mama ihr Muttersein genießen können, wenn Körper und Seele permanent ein Zuviel der belastenden Eindrücke melden?“
Dieser Satz könnte für mich geschrieben worden sein. Und auf einmal entspannt sich mein inneres Ich. Es wird ganz ruhig. Und ich auch.
Denn ich weiß: Nein, ich bereue meine Mutterrolle in keinster Weise! Es ist das Großartigste, das ich in meinem Leben erfahren durfte und darf.
Und ja, die unzähligen Eindrücke und Gefühle fordern meinen Körper so sehr, dass wenig Raum bleibt für andere Dinge. Meine Kräfte sind begrenzt. Sie reichen gerade für ein Kind aus. Aber das ist auch gut so! Und auf einmal fühlt sich alles wieder richtig an. Es sollte genau dieses eine Kind sein! Für dieses eine Kind gebe ich meine ganze Kraft und Liebe. So soll es sein. Und damit kann ich ganz zu mir selbst zurückkehren und muss mich nicht mehr mit anderen vergleichen. Es ist alles gut so, wie es ist.
Welch schöne Erkenntnis am Ende dieser Gedankenreise…
Hochsensibel – was bedeutet das eigentlich?
Hochsensible Menschen verfügen über ein sehr empfindliches Nervensystem. Sie besitzen deutlich mehr Neurotransmitter, so dass alle Reize aus der Außenwelt und dem Inneren fast ungefiltert wahrgenommen werden. Dadurch nehmen sie wesentlich mehr und feinere Einzelheiten auf. Sämtliche Eindrücke werden intensiver und tiefer verarbeitet. Das ist in erster Linie sehr belastend und anstrengend.
Typische Eigenschaften bei Hochsensibilität
- intensives Wahrnehmen und Erleben von äußeren Reizen (hören, sehen, riechen, schmecken, fühlen) und inneren Reizen (Schmerzen, Stress)
- schnelle Reizüberflutung
- starkes Erleben von Gefühlen
- erhöhte Schmerzempfindlichkeit
- Fähigkeit, Stimmungen und Gefühle anderer Menschen wahrzunehmen
- reiches Innenleben
- Perfektionismus und Gewissenhaftigkeit
- hoher Anspruch an sich selbst
- erhöhte Schreckhaftigkeit
Stärken der Hochsensiblen
- hohe Empathie
- großes Einfühlungsvermögen
- feine Wahrnehmungsfähigkeit
- gutes Gespür für die Dinge
- hohe soziale Kompetenz
- hohe Kreativität
- intuitives Handeln
Quelle: www.zartbesaitet.net
Liebe Steffi,
vielen Dank für den tollen Artikel. Ich habe mich sehr darin wieder gefunden. Mir geht es auch sehr oft so wie Dir, obwohl ich nur EIN gesundes Kind habe. Ich habe erst vor ca. einem Jahr entdeckt, dass ich hochsensibel bin. Danach wurde es leichter. Jetzt weiß ich wenigstens, warum ich so schnell überfordert, müde etc. bin.
Alles Liebe!
Liebe Tami,
vielen lieben Dank für Deine schöne Rückmeldung, die mir sehr gut getan hat.
Ich weiß genau, was Du meinst… Diese Erleichterung, diese Befreiung, wenn man erkennt, was hinter allem steckt… wenn plötzlich vieles klarer wird.
Oft fühle ich mich als Hochsensible noch ziemlich allein in der Welt, aber ich finde es so schön, wie viel Verständnis wir Hochsensiblen untereinander bzw. füreinander haben.
Auch für Dich alles Liebe!
Danke liebe Steffi. Deshalb tut es so gut Blogartikel zu lesen, wie zum Beispiel Deine! Ich schreibe auch einen Blog, habe das Thema HSP aber bisher noch nicht aufgegriffen. Kommt aber bald 🙂
Liebe Grüße