Lange hatten wir daraufhin gefiebert – und dann war es endlich soweit: Das Familienseminar „Leben lernen mit der Diagnose fragiles X“ stand kurz bevor. Unser erster kleiner Familienurlaub! Nur noch einmal schlafen – dann würden wir endlich die anderen Familien kennenlernen. Doch am Ende kam alles etwas anders als erwartet. Aber das ist mit Kindern ja nichts Ungewöhnliches. Und schon gar nicht mit einem FraX-Kind.
Und jetzt? Durchziehen oder absagen?
Und so wurde unsere Vorfreude auf das FraX-Seminar in Bad Salzdetfurth schon am Abend vor der Anreise getrübt. Unser Fips hatte mal wieder eine Schnupfnase und war sehr unleidlich. Dementsprechend unruhig war auch die Nacht, so dass wir schon befürchteten, alles absagen zu müssen. Am Morgen dann für einen kurzen Moment Erleichterung: Alles nur halb so wild. Scheinbar „nur“ eine Erkältung. Doch mein Mann ist in dieser Beziehung zum Glück ein absoluter Realist, der sich auch nicht von irgendwelchen Befindlichkeiten beeinflussen lässt: „Das macht doch trotzdem keinen Sinn, das Wochenende so durchzuziehen. Zwei Tage Programm und dann dort im Hotel – das ist doch viel zu anstrengend für ihn. Außerdem: was haben wir davon, wenn wir am Ende bei ihm auf dem Zimmer sitzen müssen?“
Verdammt! Er hatte ja recht! Ich musste es eingestehen. Trotzdem, einfach absagen kam für mich irgendwie auch nicht in Frage. Nach langem hin und her entschieden wir uns, wenigstens für einen Tag hinzufahren und abends wieder nach Hause zu fahren. Im Nachhinein bin ich auch wirklich froh, dass wir es so gemacht haben.
Geschafft!
Klar, es war eine harte Nummer für unseren Fips – die lange Autofahrt von über zweieinhalb Stunden. Für ihn eine bisher ungewohnt lange Strecke. Und von wegen – „er kann ja dann im Auto schlafen“. Ich weiß nicht, woran es gelegen hat, aber es war nichts zu machen. Er hat die ganze Fahrt über gezappelt und war extrem unruhig. Sein ganzer Körper war völlig in Aufruhr. Spürte er die innere Anspannung, die wir in uns trugen? Oder dass wir diesmal nicht wie sonst schon in Kassel abgefahren sind, sondern in eine neue, fremde Umgebung fuhren? Oder lag es einfach nur an seiner Erkältung? Die letzten Minuten der Autofahrt waren wirklich grenzwertig. Er wollte nur noch raus aus diesem Auto. Weg mit dem Gurt, raus aus diesem Sitz und rein in seinen Buggy. Dann hatte er es endlich geschafft. Und wir auch.
Fremd und gleichzeitig so verbunden.
Im Hotel angekommen wartete aber schon die nächste
Herausforderung auf ihn und uns. Eine große Gruppe unbekannter Menschen, neue
Umgebung, neue Gerüche, viele Geräusche und Sinneseindrücke. Wir waren
angekommen – in der großen Gemeinschaft der „FraX-Familien“. Viele fremde
Gesichter, Mamas, Papas, und natürlich viele FraX-Kinder und ihre Geschwister.
Alles fremde Menschen – und doch waren wir uns irgendwie alle so nah. Weil wir
alle wussten, dass wir eins gemeinsam haben im Leben: das fragile X-Syndrom.
Ich fühlte mich schnell wohl in dieser Runde, denn ich wusste, uns verbindet
alle das gleiche Thema. Wir wissen alle, was es heißt, ein „besonderes“ Kind zu
haben. So unterschiedlich unsere Kinder auch waren bzw. sind – gewisse
Ähnlichkeiten konnte ich selbst in der Kürze der Zeit feststellen. Und allein
das Gefühl, dass die anderen Eltern wohl sehr ähnliche Sorgen und Ängste haben
wie wir, wirkte auf mich sehr beruhigend. Ich freute mich auf diesen Tag! Auch
wenn mir unser kränkelndes Kind zunehmend Sorgen machte.
Immerhin, das Essen konnte unseren Fips dann schon etwas aufmuntern. Und danach
konnte er im Hotelzimmer seinen wohlverdienten Mittagsschlaf nachholen. Der war
schon längst überfällig. Schade nur, dass mein Mann in dieser Zeit nichts vom
Seminar mitbekam. Er blieb bei unserem Fips.
Die Vorstellungsrunde und den ersten Seminarblock hatte er somit schonmal
verpasst.
Das war´s schon?
Zur Kaffeepause waren meine beiden Männer wieder mit dabei. Und während unser Fips anschließend mit dem wunderbaren Team der Kinderbetreuung und allen anderen Kindern einen Waldspaziergang machte (natürlich in seinem Reha-Buggy), konnten mein Mann und ich am nächsten Seminarblock teilnehmen.
Viele Informationen und Praxisberichte sowie ein erster Abstecher in das Thema Unterstützte Kommunikation – vorgetragen von sehr FraX-erfahrenen Müttern, die durch das Seminar führten. Viele Eindrücke, neue Erkenntnisse und gleichzeitig auch interessante Praxisberichte, in denen wir uns selbst wiederfinden konnten.
Und dann – ein Blick auf die Uhr: 17:30 Uhr?! Die Kinder waren auch schon wieder zurück. Zeit fürs Abendessen. Was? Das war´s schon?
Ich war irgendwie enttäuscht. Die Zeit war so schnell vergangen! Wie immer bei solchen Terminen, Veranstaltungen und Gesprächen, in denen es um unser Kind geht. Ich habe jedes Mal das Gefühl, die Zeit rennt und wir bräuchten doch viel mehr davon. Doch in einer Runde von 9 Familien mit 9 individuellen Geschichten bleibt einfach wenig Zeit, sich im Detail zu unterhalten. Das hatte ich wohl einfach unterschätzt. Natürlich hätten wir am Abend nach dem Essen bzw. wenn die Kinder schlafen noch die Möglichkeit zum engeren Austausch gehabt, aber da waren wir leider schon wieder auf der Heimfahrt. Auch der nächste Tag hätte sicher noch viel Raum und Zeit für persönlichen Austausch gegeben. Aber es sollte für uns eben nicht sein.
Es gibt für alles einen Grund
Mittlerweile sage ich mir ja immer: Es gibt für alles einen Grund. Die Dinge kommen so, wie sie kommen sollen. Ja, es sollte wohl einfach so sein. Vielleicht sind wir ja auch schon so gefestigt und sicher in unserer Situation, dass für uns dieser eine Tag völlig ausgereicht hat. Wir haben andere Eltern und ihre Kinder erleben dürfen, wir haben einzelne Kontakte daraus mitgenommen, die sicher auch in Zukunft noch sehr wertvoll sein werden und im Nachgang noch ausreichend Raum für den Austausch untereinander bieten. Aber für dieses Wochenende war es vielleicht einfach ausreichend für unsere kleine Familie. Auch wenn ich mir im Vorfeld dieses Wochenende anders ausgemalt hatte, bin ich doch im Nachhinein zufrieden darüber, wie es abgelaufen ist.
Und was nehme ich mit aus diesem Wochenende?
Es war ein ganz besonderes Familientreffen, und ich bin dankbar, dass wir dabei sein durften und andere Familien kennenlernen konnten. Faszinierend – unsere FraX Kinder haben tatsächlich alle eine gewisse Ähnlichkeit – in ihrem Aussehen und auf den ersten Eindruck auch in ihrem Verhalten. Und doch sind sie natürlich alle sehr verschieden. Jedes ist auf seine ganz besondere Weise ein „besonderes“ Kind. Und: Jede Familie hat ihre eigenen Sorgen und Nöte, ihre ganz individuellen Probleme und Fragen und vor allem: ihren eigenen Schmerz.
Wir gehören zu den Familien, die die Diagnose schon relativ lange kennen und dementsprechend viel Zeit hatten, sich damit zu beschäftigen, sie zu verarbeiten und sie im eigenen (Familien)Leben einzusortieren. Andere Familien dagegen stehen noch relativ am Anfang dieser „Reise“. Für diese Familien war dieses Seminar sicher ein ganz wichtiges Erlebnis. Vielleicht sollte für uns dieser eine Tag einfach reichen.
Doch die wichtigste Erkenntnis, die ich an diesem Tag für mich persönlich mitgenommen habe, die mir wieder bewusst wurde:
Ich liebe mein Kind, genauso wie es ist. In seinem ganzen Wesen und seiner wunderbaren Art.
Mehr Worte braucht es dafür nicht.